Versuche und Fortschritte anerkennen

Ich kann mich heute noch daran erinnern, als meine Schwester (sie ist knapp 5 Jahre jünger als ich) laufen gelernt hat und wie sie ihre ersten freien Schritte getan hat. Ich weiss auch noch, wo das war. Es war im Urlaub an der Ostsee, meine Eltern standen auf einer Wiese und haben meine Schwester ermuntert, immer wieder zwischen ihnen hin und her die ersten freien Schritte zu laufen. Die Begeisterung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, sie war abzulesen in Blick und Stimme. Und das hat meine Schwester ermutigt, es immer wieder zu versuchen.

Genauso ging es mir mit den ersten Schritten meiner eigenen Kinder, die mich natürlich noch ganz anders begeistert haben, als damals die Schritte meiner Schwester. Unser jüngstes Kind hat im Wohnzimmer die ersten Schritte getan – auch zwischen mir und meinem Mann hin und her.

Bis es soweit ist, ist es ein langer Weg … auch wenn es letztlich erstaunlich ist, wie schnell aus dem unselbständigen Säugling ein Kind wird, das anfängt, die Welt auf den eigenen Beinen zu erkunden. All diese Fähigkeiten liegen in ihm. Und durch Wachstum, Entwicklung, ein stimulierendes und ermutigendes Umfeld kann das Kind seine Fähigkeiten entfalten. Es ist für die Eltern ein großer Entwicklungsschritt, wenn Kinder anfangen selber und unabhängig zu laufen. Und er wird von den Eltern auf erstaunliche Weise unterstützt.

Niemand kommt auf die Idee, dem Kind diesen Entwicklungsschritt abnehmen zu können. Niemand hält sich beim Hinfallen auf, indem er herausarbeitet und dem Kind erklärt, was es hätte besser machen können (okay, es versteht uns da ja auch noch nicht so richtig, aber ehrlich: Es ist auch einfach nicht in unserem Fokus). Wir glauben an das Kind und an die ihm innewohnenden Ressourcen, die diesen Entwicklungsschritt möglich machen. Und wir wissen auch: Hinfallen gehört dazu. Aus dem Hinfallen lernen wir und können so besser verstehen, wie Laufen funktioniert, was anders gemacht werden muss. Fällt das Kind, trösten wir es und ermuntern es, es wieder und wieder zu probieren, da wir instinktiv wissen, wie sehr es das Kind ermutigen wird, wenn es das gelernt hat. Die erforderlichen Voraussetzungen trägt das Kind in sich – daran zweifeln wir nicht. Und uns ist klar: Irgendwann wird das Kind und das Thema Laufen ein „Selbstläufer“.

Ohne den Prozess des Laufens, Hinfallens und Aufstehen gibt es kein Laufenlernen und damit auch kein Laufen-Können. In diesem Prozess sind wir alles andere als fehlerbezogen: Wir erkennen jeden Versuch an und spiegeln dem Kind den Fortschritt, der stattfindet. Wir sind begeistert über seine Versuche und den Willen, durchzuhalten und es immer wieder neu zu probieren.

Durch unsere Begeisterung, die wir an den Tag legen, wird das Kind zum nächsten Entwicklungsschritt motiviert. Ist es einmal über einen gewissen Punkt, steht es einfach immer wieder auf. Es ist ermutigt, traut sich etwas zu. Es weiß, es kann den nächsten Schritt schaffen. Es nimmt dafür das Hinfallen in Kauf. Und es bleibt dran; es entwickelt eine große Ausdauer darin, es immer wieder zu versuchen. Es entsteht ein Ermutigungskreislauf: Das Kind probiert, es macht eine positive Erfahrung, wird durch die Reaktionen und die Fortschritte ermutigt; es probiert noch etwas mehr … usw.

Ich habe den Eindruck, unser Blickwinkel ändert sich oft, wenn die lieben Kleinen größer werden. Und wir haben häufig einen völlig anderen Blickwinkel, wenn es um uns selbst geht. Oder vielleicht um den Arbeitskollegen, mit dem mich sowieso eine ambivalente Beziehung verbindet. Oder was ist mit unseren engsten Vertrauten, mit denen wir uns im Alltag reiben? Wie ist mein Umgang mit Fehlern, mit Hinfallen bei mir selbst und bei anderen? Kann ich sie akzeptieren, als etwas, was zum Lernen und zur Entwicklung dazugehört?

Wenn ich Versuche und Fortschritte anerkenne, komme ich weg von der Fokussierung auf das, was nicht gut läuft und weg vom Perfektionsanspruch. Ich kann das in mir selbst und im anderen sehen und beleben, was schon da ist, die vorhandenen Ressourcen in den Blick nehmen. Ich kann sehen, was ich geschafft habe, wo ich mich entwickelt habe. Und das ermutigt mich, dass es auch beim nächsten Schritt klappen wird – vielleicht nicht sofort, aber irgendwann bestimmt. Ich werde mich weiterentwickeln. Und ich kann die Fehler einordnen als etwas, was zum Lernprozess dazu gehört – bei mir selbst und bei anderen. Fehler können zu einem Entwicklungssprung führen, weil ich lerne, so geht es nicht, aber anders. Und ich neue Wege entdecke, die mir sonst verborgen geblieben wären.

Wie steht es um meine Bereitschaft, Fehler einmal anders zu bewerten? Versuche und Fortschritte anzuerkennen, ermutigt ungemein. Mich selbst und andere. Es macht unabhängiger von den Bewertungen und Urteilen anderer. Es stärkt den Glauben an und das Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit.

Bildnachweise: © Sven Brandsma - Unsplash

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