Manchmal genügt ein Blick
Alltagsimpressionen – Kennst du das auch, so oder so ähnlich?
- Gestern abend warst du fix und fertig nach dem langen Arbeitstag; du hast einfach nur noch deine Klamotten in die Ecke gepfeffert und dich aufs Sofa gelegt; du brauchtest ganz dringend Ruhe und Entspannung. War das ein anstrengender Tag! Dein Partner schaut dich tadelnd an und die Stimmung sinkt.
- Am Frühstückstisch geht es heftig und hastig zu. Du schaust auf die Uhr, deine Tochter hat ihren Tornister noch nicht fertig gepackt, obwohl das abgesprochen war. Sie sucht in Seelenruhe ihr Sachen zusammen. Du spürst, wie dein Druck steigt und der Blick, den du ihr zuwirfst, macht sie deutlich darauf aufmerksam, dass du etwas anderes erwartet hast und dass du sauer bist.
- Bei der Teamsitzung wird der Schuldige/Verantwortliche für ein Problem gesucht. Die Blicke, die hin und her gehen, sind distanziert und kühl; die Atmosphäre und das Teamgefühl frieren ein.
Die Augen sind der Spiegel der Seele
Wir kommunizieren viel über unsere Blicke. Sie sind eins unserer ersten Kontaktmöglichkeiten und -wege, die wir als Menschen benutzen, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ich habe irgendwo gelesen, dass ein Baby innerhalb von sieben Stunden nach der Geburt Interesse an dem Gesicht seiner Mutter entwickelt und sich schnell darin trainiert, Gesichtsausdrücke nachzuahmen. Beeindruckend, oder?
Wir transportieren viel mehr über unsere Körpersprache als über unsere Worte. Differenzen, von dem was an Wortinhalt bei uns ankommt und was die Körpersprache des anderen ausdrückt, nehmen wir sehr feinfühlig wahr.
So vieles über unseren Gemütszustand und unsere Haltung wird über die Augen bzw. unseren Blick deutlich: Es gibt den sanften Blick, den ruhigen Blick, den liebevollen Blick, den strengen Blick, den stechenden Blick, den vernichtenden Blick … Unsere Sprache ist da sehr vielfältig und bringt mit all diesen Begriffen zum Ausdruck, wie sehr und wie unterschiedlich wir mit unseren Blicken Botschaften transportieren. Damit unterstreichen wir das, was wir sagen. Oder manchmal entstehen auch Doppelbotschaften, wenn unser Blick etwas sagt, was wir uns mit unseren Worten nicht zu sagen trauen.
Wir unterstellen Menschen, die uns mit einem freundlichen Blick anschauen, gute Absichten uns gegenüber. Unsere Erfahrung lässt uns zu dem Schluss kommen, dass Menschen uns normalerweise dann positiv anschauen, wenn sie uns gegenüber wohlwollend und offen sind. Dann sind wir ermutigt, uns mehr auf den anderen einzulassen, trauen uns mehr zu und haben Mut und Freiheit, dem anderen mehr von uns zu zeigen und vielleicht etwas Neues auszuprobieren, ohne dass wir die Reaktion des anderen fürchten.
Unsere Blicke haben Macht – sie signalisieren dem Gegenüber entweder
- Ablehnung, Distanz, Kritik und Mißfallen oder
- Annahme, Wertschätzung, Offenheit und Interesse.
Damit schaffen sie entweder Distanz oder sind der erste Schritt zu Verbindung und Zugehörigkeit.
Was macht den freundlichen Blick aus?
Der freundliche Blick ermutigt. Er schaut den anderen nicht starr und fixiert an, sondern wandert. Er transportiert echtes Interesse und Freundlichkeit. Er nimmt den anderen wahr und drückt Wertschätzung aus: „So, wie du bist, bist du okay. Ich interessiere mich für dich, ich bin zugewandt. Ich bin dem Kontakt mit dir gegenüber aufgeschlossen.“ Er ist warm und offen. Er unterstellt dem anderen Gutes.
Entscheidend für den freundlichen Blick ist die Haltung dahinter. Bin ich wirklich bei meinem Gegenüber? Dann wende ich den Blick auch ab, bevor es meinem Gegenüber unangenehm wird. Ich will keine Macht ausüben, meinen Willen durchsetzen, den anderen beobachten und kontrollieren. Dann übertreibe ich es nicht. Mit der Haltung des echten Interesses an der Befindlichkeit des anderen, werde ich so schauen, wie es ihm gut tut. Sensibel sein für das Gegenüber dahinter. Wenn es sich „beobachtet“ fühlt, dann war ich zu direkt/aufdringlich. Was beim anderen ankommt, gibt mir eine gute Rückmeldung, an der ich mich justieren kann, an der ich lernen und trainieren kann.
Praktisch werden
Es geht nicht darum, jedem Menschen freundlich und offen zu begegnen. An manchen Stellen möchten und brauchen wir Distanz – und das ist gut und wichtig so. Da musst du vielleicht deine Aufgabe fertig machen, weil die Zeit drängt oder der nächste Termin schon in Sichtweite ist.
Übe den freundlichen Blick also nur, wenn du etwas Zeit hast, denn
- es könnte sein, dass du deinen Nachbarn im Vorbeigehen mit dem freundlichen Blick grüßt und sich daraus ein Gespräch ergibt. Ihr habt euch schon länger nicht mehr unterhalten oder vielleicht noch nie; durch deinen Blick ist er ermutigt und möchte ein paar Worte mit dir wechseln, dich vielleicht ein bisschen besser kennenlernen …
- es könnte sein, dass die Kundin hinter dir an der Kasse im Supermarkt auf deinen Blick hin ein kurzes Gespräch mit dir anfängt, weil sie schon lange nicht mehr diese Zugewandtheit im Blick wahrgenommen hat. In der Regel sind alle beim Einkaufen mit sich selbst und ihren ToDos beschäftigt und sie wohnt allein und hat genau diesen Blick heute so sehr gebraucht …
- es könnte sein, dass dein Arbeitskollege bemerkt, dass ihr euch sonst eigentlich nur fachlich austauscht und er stellt fest, du interessierst dich darüber hinaus anscheinend tatsächlich, wie es ihm mit dem neuen Chef geht und so beginnt er zu reden …
- es könnte sein, dass dein Partner sein Handy aus der Hand legt, weil er dein echtes Interesse und deine Wertschätzung spürt und beginnt, von sich zu erzählen. Wie war das noch, als ihr frisch verliebt wart? Da lag in euren Blicken Liebe und Wertschätzung und ihr habt euch häufig intensiv angeschaut. Das hat so gut getan und ihr konntet nicht genug davon bekommen! Wie oft ist der Blick heute im Alltag manchmal gar nicht freundlich, sondern eher genervt und tötet so eher die Verbindung zwischen euch ab, als dass er Verbindung schafft?
Ich möchte dir Mut machen, deinen Blicken mehr Aufmerksamkeit zu schenken und ihnen mehr Bedeutung beizumessen. Ich glaube, dass wir die Wirkung weit unterschätzen und die Ermutigung, die allein unsere Blicke für das Gegenüber sein können. Und wie sehr unsere Blicke (und damit wir selbst!) Einfluss auf die Beziehungsqualität haben.
Wen willst du heute mit einem freundlichen Blick ermutigen? Es kann damit anfangen, wie du dich selbst heute morgen im Spiegel freundlich und wertschätzend anschaust und dann weiter Kreise ziehen beim Frühstück mit den Kindern und im Bus auf dem Weg zur Arbeit … oder wo auch immer du dich heute für den freundlichen Blick entscheidest und damit die Chance ergreifst, ein Segen zu sein.
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