Leicht zu übersehen
Bestimmt kennst du auch Situationen, in denen du dich mit anderen über ein gemeinsames Erlebnis austauschst: „Weißt du noch, damals …?“ Oder du unterhältst dich über eine Erfahrung, die ihr gemeinsam mit einer weiteren Person gemacht habt; es geht um eine Diskussion, einen Streit, die Fetzen flogen. Während ihr euch austauscht, fragst du dich: Sprechen wir über dieselbe Situation? Haben wir dasselbe erlebt? Der andere erzählt etwas, an das du dich überhaupt nicht erinnern kannst oder seine atmosphärische Färbung hat so gar nichts mit dem zu tun, wie du die Situation wahrgenommen und in Erinnerung hast. Was ist passiert? Wie kann man etwas so unterschiedlich wahrnehmen? Du fragst dich: Reden wir wirklich von demselben Ding?
Das Gorilla-Experiment oder: Worauf konzentrierst du dich?
Kennst du das „Gorilla-Experiment“ der beiden amerikanischen Psychologen Daniel Simmons und Christopher Chabris? Sie hatten einer Gruppe von Probanden ein Video gezeigt, in der sechs Personen mit zwei Basketbällen spielen; jeweils 3 schwarz gekleidete Personen passen sich einen Basketball zu und drei Personen in weißen T-Shirts einen anderen Ball. Sie laufen durcheinander, während sie sich die Bälle zuspielen. Die Aufgabe an die Probanden war, die Pässe der weißen Mannschaft zu zählen. Das ist gar nicht so einfach; es erfordert einiges an Konzentration. Mitten während dieses Zeitraums läuft ein schwarzkostümierter Gorilla durch die Szene. Mich hat es verblüfft und zuerst einmal sprachlos gemacht, dass die Probanden den Gorilla nicht wahrgenommen haben. Ich wusste allerdings ja auch vor dem Schauen des Videos, dass der Gorilla erscheint und war also nicht voll und ausschließlich auf die Pässe der weißen Spieler konzentriert.
Hier du findest das entsprechende Video bei YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo&t=43s .
Wenn du dir das Video anschaust, kannst du wahrscheinlich – genauso wie ich – fast nicht glauben, dass man den Gorilla übersehen kann. Erstaunlicherweise ist es aber so, dass selbst Personen den Gorilla nicht wahrnehmen, die wissen, dass etwas Außergewöhnliches passieren wird. Es gibt noch einige weitere Untersuchungen, die das Ergebnis bestätigen.
In der Psychologie handelt es sich um ein bekanntes Phänomen; es gibt sogar einen Namen dafür: Unaufmerksamkeitsblindheit. Es beschreibt den Umstand, dass wir dazu neigen, selbst aufdringliche Dinge zu übersehen, wenn wir uns sehr stark auf etwas anderes konzentrieren. Wir blenden Dinge aus, um uns klarer fokussieren zu können. Das ist gut und hilfreich: Es ist wichtig, dass wir das, was wir wahrnehmen, selektieren, dass wir uns Meinungen bilden, Strukturen, in die wir einsortieren. Für uns in der Situation Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können und dem Unwichtigen keinen Fokus geben. Sonst könnten wir nicht so konzentriert an einer Sache arbeiten.
Worauf konzentrierst du dich?
Das ist eine spannende Frage, der wir alle uns vielleicht gar nicht so bewusst sind. Wie ist der Fokus in deinem Leben, in deinem Umfeld? Was steht im Vordergrund? Worauf liegt die Konzentration? Mir scheint, dass an vielen Stellen die Fehlerorientierung und der Mangel den Fokus bekommen:
- Was ist falsch im System? Wo hat der andere sich falsch verhalten? Der hätte doch mal dieses oder jenes tun können, dann ginge es mir besser, dann hätten wir das Problem nicht. Wer ist dafür verantwortlich, dass … ? Die Suche nach einem Schuldigen beginnt. Der Ton ist rauer geworden. Wir sind oft fokussiert auf das, was nicht gut ist, auf das, was uns fehlt, was besser sein könnte, wo der andere nicht tut, was ich erwarte oder „wie es sein sollte“.
- Die ständige Präsenz von negativen, schweren Nachrichten … hier ein Krieg, da ein Wahlkampf, der nichts mit Respekt zu tun hat, wo es nur darum geht, den anderen möglichst schlecht zu machen; Hunger, Mangel, Naturkatastrophen, Tod.
- Wenn die Kollegen zusammenstehen, reden sie über den Chef und seine Fehler und den abwesenden Kollegen … auf dem Schulhof wird gemobbt. Machen doch alle so?
- Wir müssen ja noch nicht einmal zum Arbeitsplatz schauen: Was ist in der (Groß-) Familie manchmal los? Was unterstellen wir dem anderen? Sehen wir das, was nervt oder das, was an Ressourcen da ist und was vielleicht schon besser klappt?
Ich frage mich: Was macht das mit der Atmosphäre, in der wir uns bewegen? Was macht das mit unseren Beziehungen? Führt diese ständige Präsenz von negativen Nachrichten, die allgegenwärtige Fehlerbezogenheit und der suggerierte Mangel nicht dazu, dass wir das andere – das Gute, das ja auch da ist – gar nicht mehr wahrnehmen können oder zumindest leicht übersehen? Was ist die Konsequenz für mein Leben, wenn das, was nicht gut ist, was schwer ist, was unaussprechlich ist an Leid, Schmerz, an Unsicherheit … wenn das meine Perspektive bestimmt, weil ich fast nichts anderes mehr wahrnehmen kann? Was macht es im Miteinander mit anderen Menschen? Was macht es mit deiner und meiner psychischen Gesundheit? Ich verstehe gut, dass Menschen mit diesem Fokus den Lebensmut verlieren können und sagen: Hat eh alles keinen Sinn!
Das Gute wahrnehmen und wertschätzen
Um eins gleich vorweg klarzustellen: es geht mir absolut nicht um Naivität und Schönrederei. Wir Menschen sind mit einem Verstand ausgestattet und können beides sehen: Das Gute und das Schlechte. Und wir können unterscheiden. Das ist gut und wichtig so. Es ist notwendig, beides wahrzunehmen, denn nur so können wir gute Entscheidungen treffen, angemessen reagieren und gut gestalten.
Aber es ist ein erster Schritt, mir bewusst darüber zu sein, dass meine Wahrnehmung selektiv ist und dass ich dazu neige, manchmal auch selbst Offensichtliches zu übersehen. Was verändert sich, wenn ich mich daran erinnere? Dass es mehr gibt, als das, was mich vielleicht entmutigt? Wenn ich mich entscheide, das Gute wahrzunehmen, es zu suchen? Wenn ich einfach davon ausgehe: Das Gute ist auch da? Und: Wie kann das praktisch aussehen?
- In Beziehungen und Begegnungen mit anderen entscheide ich mich immer wieder ganz bewusst dafür, das Gute sehen zu wollen und neben allem anderen auch die Stärken und Ressourcen der Person wahrzunehmen. Wie prägt es meine Erwartungshaltung für zukünftige Begegnungen, was macht es mit dem, wie sich die Beziehung entwickelt, wenn ich offen bin, das Gute zu sehen? Die Meinung, die ich über eine andere Person habe entscheidet über die Haltung, die ich ihr gegenüber einnehme. Meine – oft auch unbewusste – Erwartung und Vorstellung, wie sich die Person verhalten wird, prägt zu großen Teilen, wie sich die weitere Beziehung entwickeln wird. Was für eine Chance!
- In Gesprächen und Diskussionen lasse ich unterschiedliche Wahrnehmungen stehen. Ich ziehe in Erwägung, dass der andere auch gute Gründe und Absichten für seine Darstellung haben könnte, dass auch ich vielleicht für den anderen Offensichtliches übersehen habe. Ich versuche zu verstehen und zeige Interesse. Damit kann ich neue Aspekte kennenlernen und mein Blickfeld erweitern. Und ganz unabhängig vom Gesprächsthema wird die Begegnung miteinander eher auf der Ebene der Gleichwertigkeit möglich. Welch ein Geschenk für alle Beteiligten!
- Auch in schwierigen Lebensphasen, die für mich auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben, kann ich eine Entscheidung treffen, welche Haltung ich einnehme. Gehe ich davon aus, das Gute ist (auch irgendwo) da? Selbst, wenn ich es auf den ersten Blick nicht sehen kann? Gerade Krisen können – auf lange Sicht betrachtet – große Entwicklungschancen beinhalten; auch wenn es zwischendurch gar nicht danach aussieht: Ich habe es selbst erlebt. Dieser Blick kann immer wieder neu Kraft geben, durchzuhalten!
- Und selbst wenn das Negative in meiner Situation oder auch in einer Beziehung überwiegt, kann ich auch aus negativen Ereignissen oder Begegnungen Wichtiges für mich gewinnen und lernen:
- Mir klarer werden, was mir wichtig ist und was nicht: Das ermöglicht mir in der Zukunft einen klareren Blick für mich selbst, meine Grenzen und damit ein besseres und bewussteres Einstehen für mich selbst.
- Ich kann mein Handeln anpassen: Neue Handlungsmöglichkeiten ausprobieren und dabei etwas entdecken, was hilfreich ist und mir sonst vielleicht verborgen geblieben wäre.
- Verstehen, was ich im Leben nicht möchte: auch das ist wertvoll, um mit einer anderen Klarheit und Überzeugung meinen weiteren Lebensweg zu gestalten.
Praktisch werden
„Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge.“ – Epiktet
Wenn du deinen Blick für das Gute schärfen möchtest, gibt es viele Möglichkeiten. Du kannst dir z.B. folgende Fragen abends stellen und täglich jeweils 3-5 Antworten suchen: Wofür bin ich dankbar? Was ist gut in meiner aktuellen Lebenssituation? Wenn du das eine Weile machst, wird sich dein Blick verändern.
Wenn du dich (oder andere) mit guten Nachrichten beschenken willst: Zwei Bücher randvoll mit guten Nachrichten:
Ein Jahr voller guter Nachrichten
Good News! Ein Jahr voller guter Nachrichten
In der Leseprobe bei amazon kannst du einfach mal reinschnuppern.
Probiere aus, welche Wege zu dir passen, damit du das Gute in deinem Leben bewusster in den Blick nehmen kannst. Es lohnt sich!
Das Encouraging-Training ist auch eine gute Entscheidung, um in die Praxis zu kommen. Hier trainieren wir in einer Gruppe von 4-8 Personen genau das: Mehr den Blick dafür zu schärfen, wie das Gute und damit auch die Ermutigung in unserem Leben Raum bekommt. Dabei spüren wir auch auf, was dem manchmal im Wege stehen kann. Positive Auswirkungen auf deinen Alltag und deine Beziehungen sind durch das Training garantiert!
Bildnachweise: © Kelly Sikkema - Unsplash