Interesse für andere

Als eine der erstrebenswerten, ermutigenden Qualitäten beim Encouraging-Training nennt Theo Schoenaker „Interesse für andere“. Mir ist in den letzten Wochen noch einmal sehr bewusst geworden, dass es manchmal gar nicht so einfach ist zu unterscheiden, wann es mir um die anderen geht und wann es um mich selbst geht. Liest man den Begriff „Interesse für andere“ denkt man vielleicht im ersten Moment: Na klar, ich habe Interesse für andere! Mich interessiert, wie es dem anderen geht, was er erlebt, ich freue mich, wenn er mir etwas erzählt und mir Anteil gibt an seinem Leben.

Gespeist von einer aktuell sehr dramatischen gesundheitlichen Entwicklung in meinem unmittelbaren Freundeskreis bin ich nochmal ganz anders mit diesem Thema in Berührung gekommen. Ich bin tief betroffen von der gesamten Situation; was die Person selber betrifft, die empfundene Hilflosigkeit bei den Angehörigen und auch bei mir selbst. Es gibt Situationen, da fehlen einem einfach wirklich die Worte … und es braucht ganz viel Mut, sich diesen Situationen zu stellen. Erst einmal anzunehmen und auszuhalten, was da ist.

Ich kann auf solche Grenzsituationen ganz unterschiedlich reagieren und ich bin mir im Detail gar nicht so ganz klar, was meine bewussten oder auch meine unbewussten Ziele sind, die ich mit dem verfolge, wie ich auf die Situation reagiere. Natürlich meine ich es „gut“ – die Frage ist: Für mich oder für den anderen? Und letztlich geht es mir gar nicht nur um Grenzsituationen, sondern um meine generelle Haltung und meine Ziele, wenn ich und wie ich mich für andere interessiere.

Gerade in diesen Grenzsituationen sind wir innerlich in Aufruhr, können selber nicht glauben, was da passiert, sind fassungslos und fühlen uns erst einmal hilflos. Das ist schwer auszuhalten. Wir werden auf sehr unbequeme Art und Weise damit konfrontiert, dass wir keine wirkliche Kontrolle haben; nicht über Leben, Krankheit, Tod der anderen und auch nicht bei uns selbst. Und welche weitreichenden Konsequenzen das im Detail mit sich bringen kann. Das wird uns sehr drastisch vor Augen geführt. Ich weiss nicht, wie lange ich hier auf der Erde mit meinem Partner, meinen Kindern, meinen Eltern, meinen Freunden gemeinsam unterwegs sein kann. Und ob ich weiterhin mit ihnen so unterwegs sein kann, wie ich es liebe und es mir unendlich wertvoll ist.

Es tut weh, jemanden zu begleiten, der in so eine unfassbare Situation gestellt ist. Das ist schwer auszuhalten. Wirklich beim anderen zu sein, Interesse für ihn zu haben, bedeutet ja, dass ich selber diese Hilflosigkeit und dieses „Alles-ist-auf-den-Kopf-gestellt-und mir fehlen-die-Worte“ spüren muss. Dass ich persönlich in Kontakt komme mit dieser erst einmal tief entmutigenden Situation und das auch zulasse. Und auch meine eigene Sprachlosigkeit aushalte. Dass es keine zufrieden stellenden Antworten gibt; ja, manchmal noch nicht einmal mehr Worte. Mit denen ganz schnell „alles wieder gut“ ist.

Das ist schwer. Besonders, wenn ich eigentlich viel lieber aktiv bin, Lösungen anbiete, über Ratschlägen brüte und ganz viel tun möchte … und meine, den anderen mit meinen Vorschlägen zu unterstützen, obwohl der das gar nicht möchte und schon gar nicht gebrauchen kann. Ich habe dann vielleicht sogar  in meinen Augen ganz glaubwürdige Begründungen, warum ich nicht locker lasse … der Betroffene ist gerade nicht in der Lage, selber klar zu denken und zu sehen, was gut für ihn ist, da er unter Schock steht. Ich – mit Abstand – kann die Lösung sehen, das, was vielleicht (oder bestimmt?) die Veränderung bringt. Der Betroffene müsste doch verstehen, dass jetzt die und die Schritte gegangen werden müssen … Egal welche Begründung ich finde, den anderen und seine Grenzen nicht zu respektieren – es geht dabei nicht mehr um Interesse am und für den anderen, sondern es geht um mich. Es geht mir zu langsam, ich kann es nicht aushalten. Ich möchte, dass etwas bestimmtes getan wird … Und eigentlich suche ich damit nach Erleichterung für mich. Es fühlt sich einfach auf den ersten Blick nicht gut an zu sagen:“Du, ich bin total betroffen und bestürzt. Mir fehlen die Worte. Ich kann gerade nichts tun – außer mit dir schweigen und weinen.“

Helfen und unterstützen im Sinne von Ermutigung hat als Ziel, den anderen zu verstehen, Anteil zu nehmen, zu ermutigen und zu erfreuen – was jetzt in der beschriebenen Situation auf den ersten Blick schwer erscheint. „Anteil nehmen“ hat etwas zu tun mit „einen Teil nehmen“, mitgehen, mitfühlen; dabei interessiere ich mich für das, was den anderen bewegt, was ihm wichtig ist, was er braucht. Ich bin einfach da und helfe dem anderen  an mancher Stelle vielleicht nur, Worte zu finden für etwas, was vielleicht noch nicht wirklich in Worte zu fassen ist. An anderer Stelle kann ich auch ganz praktisch helfen; mit dem Blick beim anderen: so wie er es äußern kann und braucht.

Interesse, das genährt ist von Neugier, das wissen will, was los ist, das weitererzählen möchte („Hast du auch schon XYZ gehört? Wie schrecklich!“), hat nichts mit echtem Interesse am anderen zu tun. Weder mit echtem Interesse dem gegenüber, von dem ich die Neuigkeiten erfahre und über den ich rede, noch mit Interesse an dem, mit dem ich diese wichtige Neuigkeit teile. Auch hier geht es um mich. Es geht darum, dass ich etwas Wichtiges zu teilen habe, ein interessantes und besonderes Gesprächsthema habe. Und damit vielleicht für andere interessant bin. Warum und wozu teile ich etwas, was ich über andere erzähle? Geht es um den anderen oder was ist mein Ziel?

Beim Interesse für andere geht um das Bedürfnis, den anderen wirklich kennenlernen und verstehen zu wollen und mich auf ihn einzulassen; das hat nichts mit Toleranz zu tun oder mit Dulden. Es geht nicht um ein bloßes: Ich toleriere deine Meinung und wie du lebst und Entscheidungen triffst. Es geht um wirkliches Verstehen-wollen: Was brauchst du jetzt? Wie geht es dir wirklich? Was meinst du mit dem, was du sagst? Nehme ich es ernst, respektiere ich das? Wie kommst du zu deinen Meinungen, zu deiner Sicht auf die Dinge? Meine Deutungen und Bewertungen der Situation des anderen sind in dem Moment nicht relevant; sie versperren meinen Blick auf wirkliches Teilhaben am Leben des anderen. Und sie sind wenig hilfreich, um dem anderen ein ermutigendes Gegenüber sein zu können.

Wie gut tut es, mit Menschen verbunden zu sein, wo echtes Interesse aneinander ein Grundpfeiler der Beziehung ist. Wo ich weiß, ich bin akzeptiert mit allem, was da ist, mit aller Unvollkommenheit, Begrenztheit, mit aller Andersartigkeit und allem, was ein anderer vielleicht auch erstmal nicht versteht. Wo ich spüre, jemand möchte mir keine Lösungen anbieten, sondern hat wirkliches Interesse, das verstehen will. Wo ich michauch dann öffnen kann, wenn es für mich eng wird, wenn ich an meine Grenzen komme. Welchen Reichtum bringt das in mein Leben, welche Tiefe. Wie gut, dass wir einander diesen Raum geben können durch echtes Interesse aneinander. Und wie sehr ermutigt das. Auch – aber nicht nur – in Grenzsituationen.

Bildnachweise: © Bruce Comber - Unsplash

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