Das Gute erkennen
Vor einigen Jahren kam es in meinem Leben zu einer ziemlichen Krise. Es gab einen größeren Umbruch in unseren sozialen Vernetzungen; Personen, die ich sehr schätze und zu denen ich mich zugehörig fühlte, sahen einen anderen Weg für sich als wir – und so trennten sich unsere Wege. An sich nicht unbedingt etwas sehr Dramatisches; schließlich kommt das immer wieder in sozialen Bezügen vor. Was es für mich herausfordernd machte, war der gesamte Kontext. Wir haben über Jahre intensive Beziehungen gepflegt, haben gemeinsam Projekte nach vorne gebracht und sahen uns an eine gemeinsame Aufgabe gestellt. Wir haben uns ergänzt, ermutigt, zu Unbekanntem herausgefordert und authentische Gemeinschaft miteinander erlebt. Ein großer Teil unseres Freundeskreises befand sich innerhalb dieser Gruppe. Auf welche Art und Weise dieser gemeinsame Weg zu Ende ging, habe ich als sehr schmerzhaft erlebt. Und ich bin einen weiten Weg gegangen, um für mich anzuschauen, was da abgelaufen ist und wie ich damit umgehen kann. Mir war klar: Wenn ich das nicht anschaue und für mich bearbeite, werde ich sehr wahrscheinlich darüber bitter werden.
Heute – nach 5 Jahren – bin ich rückblickend sehr dankbar für den Umbruch und die große Chance, die letztlich darin gelegen hat. Ich habe viel gelernt – unter anderem besonders viel über mich selbst. Ich habe neben allem Reflektieren, Vergeben und Loslassen, Neues und Spannendes entdeckt und bin gewachsen. Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn es diesen Einbruch nicht gegeben hätte. Ich hätte manchen (Reife-) Schritt nicht gehen können; jedenfalls nicht so, wie ich ihn aufgrund der Situation gegangen bin. Und ich wäre vermutlich nicht so intensiv mit den Themen und Erfahrungen in Berührung gekommen, für die ich heute brenne: die Individualpsychologie und das Encouraging Training.
„Das Gute erkennen“ ist eine der erstrebenswerten Qualitäten in Theo Schoenakers Buch „Mut tut gut“ und bei dem Encouraging Training. Dabei geht es an keiner Stelle um Naivität oder „Schönreden“ von etwas, was in unserem oder dem Leben anderer passiert. Was uns schmerzt. Und es geht auch nicht darum, immer wieder gutgläubig Menschen zu vertrauen, die uns offensichtlich Böses wollen. Das Schlechte ist da. Dass wir unterscheiden können, was gut und was schlecht ist, ist eine wichtige menschliche Eigenschaft. Gerade sie ermöglicht es uns ja erst, beides wahrzunehmen. Und uns bei Bedarf abzugrenzen und zu schützen.
Ich kann das Gute nur dann wahrnehmen, wenn ich auch das Schlechte sehe. Wenn ich es differenzieren kann. Für mich war das Gute anfangs in der oben beschriebenen Situation nicht so einfach sichtbar.
In einer Situation wie dieser musste ich eine Entscheidung treffen: Ich musste erst einmal bereit sein, das Gute erkennen zu wollen, es zu suchen in dem Ganzen, was passiert war. Angestoßen durch die Lektüre von „Das große Glück der kleinen Dinge“ und einigen anderen Impulsen entschied ich mich damals, mir ein schönes Notizbuch anzulegen und jeden Abend vor dem Schlafengehen drei bis fünf Dinge aufzuschreiben, für die ich dankbar bin, die gut sind in meinem Leben.
Erstaunlich ist, was dann passierte. Durch meine Entscheidung, das Gute sehen zu wollen, änderte sich mein Fokus. Das Schlechte war immer noch da; gleichzeitig fiel mir über die Zeit immer mehr Gutes auf, was eben auch in meinem Leben ist und die Seiten in meiner Kladde füllten sich. Zwischendurch und besonders in Situationen, wo ich als erste Reaktion entmutigt war, blätterte ich schonmal zurück … Was für ein Geschenk und welche Ermutigung, sich den Reichtum im eigenen Leben so konkret vor Augen führen zu können! Und mit der Zeit nahm ich eine veränderte Haltung bei mir wahr: Ich erwartete, auch Gutes sehen zu können, wenn etwas passierte; ich ging einfach davon aus, das Gute ist da.
Durch Dankbarkeit und die Entscheidung, das Gute wahrnehmen zu wollen, entsteht ein anderer Blick auf das Leben, es entsteht Weite. Ich erlebe mich als Gestalter, weil ich erkenne, mit meiner Entscheidung wie ich den Fokus setze, kann ich Einfluss darauf nehmen, wie es mir mit der Situation geht und welche Gefühle stärker in mir präsent sind. Wenn ich immer die negativen Gedanken wiederhole oder Was-wäre-wenn-Überlegungen anstelle und mich vergleiche, zieht mich das weiter runter. Ich entdecke dann immer mehr, was auch noch schlecht ist. Zumal wir von Natur aus eher fehler- und mangelorientiert sind. Das entmutigt immer mehr.
Entscheide ich mich, meinen Fokus auf das Gute zu setzen, kommt etwas in Bewegung. Am Anfang fühlt es sich vielleicht mühsam an, weil ich einfach nicht gewohnt bin so zu denken, aber es fällt mit der Zeit immer mehr Gutes ins Auge. Und damit ändert sich auch die Grundhaltung dem Leben gegenüber. Ich gehe davon aus, dass das Gute da ist. Ich bin optimistischer.
Und sollte ich in einer schlimmen Situation sein, wo ich nichts Gutes erkennen kann, kann ich mich fragen: „Wofür bin ich jetzt dankbar?“ Denn ich kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es letztlich noch schlimmer hätte kommen können.
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