Beste Freunde
Es gibt immer wieder Phasen im Leben, da bricht von außen jede Menge über uns herein und wir sind gefordert, dazu Stellung zu beziehen, uns damit auseinanderzusetzen. Von jetzt auf gleich kann ein Gefühl der Gelassenheit dem Gefühl der Überforderung weichen. Wir erleben uns plötzlich nur noch reagierend auf das, was im Außen passiert und nehmen unseren Gestaltungsraum, unsere Selbstwirksamkeit nicht mehr wahr. Die Anforderungen und die Not im Außen – sei es auf der Arbeit, in der Familie, eine Beziehungskrise, vielleicht eine schwere Diagnose, mit der wir plötzlich in unserem Umfeld konfrontiert sind – verdrängen alles andere. Ganz zu schweigen von dem, was in den täglichen Nachrichten auf uns einstürmt. Welche Situationen kennst du aus deinem Leben, in denen du dich nur noch reagierend aber nicht wirklich aktiv handelnd und gestaltend erlebst?
Spannend wird es, wenn wir uns ein solches Szenario einmal von zwei unterschiedlichen Blickpunkten aus anschauen: Wie gehe ich mit mir um, wenn es mich selbst betrifft? Wie spreche ich mit mir selbst? Was tue ich für mich, um gut in so einer Situation navigieren zu können? Wie sorge ich für mich? Und wie gehe ich mit meiner besten Freundin um, die sich gerade stark gefordert erlebt? Die mit Dingen konfrontiert ist, die ihre Energie fordern, wo sie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann? Wie verhalte ich mich ihr gegenüber?
Nun, meine Freundin würde ich zum Beispiel fragen, wie es ihr geht, ich würde mich hinsetzen und zuhören, was sie erzählt. Und zwar aufmerksam zuhören. Mir Zeit nehmen. Auf Zwischentöne achten. Nicht einfach das Thema wechseln, weil etwas anderes gerade dringender nach Aufmerksamkeit ruft. Ich würde sie fragen, was ihr gut täte, was sie braucht. Kann ich sie vielleicht unterstützen? Womit kann sie Energie nachtanken? Was belebt sie und hilft vielleicht trotz allem, was im Außen los ist, etwas Leichtigkeit zu fühlen? Ich würde sie ermutigen, genau dafür in all dem Trubel Raum zu schaffen. Es nicht beiseite zu legen mit Aussagen wie: Das ist jetzt nun wirklich nebensächlich. Reiss dich mal zusammen! Andere Leute geht es so viel schlechter, die musst du jetzt mal unterstützen! Stell dich nicht so an! Überhaupt: Mach dich nicht so wichtig! Du bist nicht der Nabel der Welt!
Ich würde ernst nehmen, was sie sagt. Keine Vergleiche anstellen, nicht bewerten und verurteilen. Versuchen, zu hören und zu verstehen. Sie umarmen und ermutigen. Denn: Sie ist für mich wichtig!
Spannend ist dann die Frage: Wie gehe ich mit mir um? Was erwarte ich von mir?
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst
Dieses Zitat aus der Bibel kennen wir vermutlich alle. Und vielleicht kennst du – so wie ich – hauptsächlich den ersten Teil. Es ist ein hohes Gut zu geben, sich zu investieren, für andere da zu sein, die in Not sind. Nicht um mich selbst zu kreisen. Und natürlich gibt es Extremsituationen, in denen es nötig ist, den Fokus ganz auf den anderen zu richten. Für eine gewisse Zeit.
Für ein gutes, gesundes Geben, was mich auf Dauer nicht ausbrennen lässt, ist es wichtig, mich und meine Grenzen wahrnehmen zu können, zu wissen, was ich brauche und wie ich für mich selbst sorgen kann. Von mir nichts Übermenschliches zu erwarten. Mich mit meinen Grenzen und meiner Unvollkommenheit anzunehmen.
Wie gehe ich mit mir selbst um? Nicht nur in Ausnahmesituationen, sondern generell? „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst …“ meint: Nicht „nur ich“ und genauso wenig „nur der andere“. Es bedeutet: Ich UND der andere. Wir sind auf Gegenseitigkeit und Miteinander angelegt, auf „mich selbst wahrnehmen und für mich da sein“ und „den anderen wahrnehmen und für ihn da sein“.
Wie mich selbst …
- Wenn ich selbst für mich sorge, kann ich in Freiheit für den anderen da sein, reagieren auf das, was er von mir braucht. Ich kann den anderen aus meinen Erwartungen frei lassen, die ich an ihn habe, denn ich sorge für mich. Ich mache ihn nicht für meine unerfüllten Bedürfnisse und Wünsche verantwortlich. Wenn ich mir etwas vom anderen wünsche, dann spreche ich das an. Ich bin diejenige, die Verantwortung dafür hat, gut für mich selbst zu sorgen. Ich nehme mir ausreichend Zeit, meine Bedürfnisse zu spüren und wahrzunehmen. Ich spreche meine Bedürfnisse an und aus – zuerst mir selbst und dann dem anderen gegenüber.
- Wenn ich meine Bedürfnisse und damit mich selbst ernst nehme, dann kann ich mir erlauben, Pause zu machen, meine Gesundheit und meinen Körper ernst nehmen und ihm auch die Ruhe und Erholung geben, die er braucht. Ich bin mir bewusst, dass ich im Außen nur geben kann, wenn etwas da ist, was ich zu geben habe. Ich bin nicht der Retter der Welt. Ich brauche mich nicht erst zu überarbeiten oder krank zu werden, bis ich mir dann endlich notgedrungen Ruhe und eine Auszeit nehmen kann.
- Wenn ich „Nein“ sagen kann und mich, meine Bedürfnisse und Grenzen ernst nehmen kann, dann kann ich auch besser ein „Nein“ meines Gegenübers akzeptieren. Auch wenn ich mir in diesem Moment meiner Anfrage an den anderen vielleicht etwas anderes wünsche, kann ich das „Nein“ des anderen eher als ein „Ja“ zu seinen Grenzen und Bedürfnissen verstehen und nicht als ein „Nein“ zu mir. Was wiederum unglaubliche Freiheit in unsere Beziehung bringt – auf beiden Seiten!
Anscheinend gibt es da einen Zusammenhang: Das, was ich mir gegenüber leben kann, das kann ich auch in Bezug auf meinen Nächsten leben. Was ich bei mir annehmen kann, kann ich auch bei anderen annehmen. Wo ich mir Freiraum zugestehen kann, kann ich das auch bei anderen. Wo ich mir selbst gegenüber Erwartungen, Ansprüche und Forderungen loslassen kann, kann ich das auch leichter bei meinem Gegenüber.
Wenn ich für mich sorge, auf mich achte, mit mir verbunden bin, kann ich geben aus dem, was ich zu geben habe. Und ich merke früh genug, wann mich das Geben und Investieren in andere leer laufen lässt und auszehrt. Um mit dem anderen und mir selbst gut und verantwortungsvoll umzugehen, werde ich mich selbst im Blick behalten. Und damit also gleichzeitig für mich und den anderen sorgen.
Dieser Text von Bernhard von Clairvaux (1090-1153) bringt es für mich gut auf den Punkt:
„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weiter gibt, während jene wartet, bis sie erfüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter … Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird zur See. Die Schale schämt sich nicht, nicht überströmender zu sein als die Quelle … Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, wenn nicht, schone dich.“
Praktisch werden
Wie kann ich mir heute mein bester Freund/meine beste Freundin sein?
- Sorge tragen für meine grundlegenden Bedürfnisse:
- für meinen Körper sorgen durch ausreichend Schlaf, gutes Essen, Bewegung …
- für Seele und Geist sorgen, Zeit mit Menschen verbringen, die gut tun, erfüllende Aufgaben, Geniessen …
- vielleicht brauche ich regelmäßig Zeit alleine, in der ich mich besser spüren und wahrnehmen kann? Gerade wenn ich dazu neige, meine Selbstwahrnehmung bei vielen Anforderungen im Außen zu verlieren, ist das ein erster, wichtiger Schritt.
- mitfühlend und ermutigend mit mir selbst sprechen (mehr Gedanken zum Thema „Selbstgespräche“ findest du z.B.hier)
- wenn ich Entmutigung und Überforderung spüre, meinen Blick bewusst auf das richten, was trotz allem noch an Gutem zu finden ist; das Gute ist immer auch da! Was ist mir gelungen, was lerne ich gerade? Wofür kann ich dankbar sein? Dieser Blick fördert immer mehr zutage, er ermutigt und gibt neue Kraft.
- bei Anfragen von außen nicht spontan „Ja“ sagen. Wenn ich vielleicht schon weiß, dass ich zu einem zu schnellen „ja“ tendiere, was mich hinterher dann oft unter Druck bringt, gebe ich mir Bedenkzeit. Ich nehme mir die Zeit, um eine gute Entscheidung treffen zu können. Die letztlich mir und dem anderen dient.
Was fällt dir noch ein, wie du für dich dein bester Freund/deine beste Freundin sein kannst? Womit wärst du dir aktuell in deinen Herausforderungen dein bester Freund? Was brauchst du konkret heute, was vielleicht regelmäßiger als bisher?
Stell dir vor, wie würde es aussehen?
Welche Auswirkungen hätte es konkret in deinem Alltag, wenn du in dieser Hinsicht bewusst Verantwortung für dich übernehmen würdest? Welche Konsequenzen hätte es für das Miteinander mit den Menschen in deinem Umfeld? Nicht, weil du dich zurückziehst, nicht mehr da bist und nur noch um dich selbst kreist, sondern weil du – nach einer Zeit, in der du dich wahrnimmst, was du brauchst und dafür selbst Sorge trägst – wirklich da und beim anderen bist und geben kannst aus dem, was in dir ist – nicht aus Verpflichtung heraus oder „weil man das so macht“ – sondern in Leichtigkeit und Freiheit.
Bildnachweise: © Kinga Howard - Unsplash